Vom 15. – 21. August 2017 organisierte die GRÜNE JUGEND Berlin mit den Yesil Sol Gencler ein politisches Jugendcamp in Aliaga, Izmir. Insgesamt gab es 58 Teilnehmende. 14 Teilnehmer*innen aus Deutschland (Berlin, Dresden, Leipzig, Lüneburg) und 44 Teilnehmer*innen aus der Türkei (Ankara, Adana, Antalya, Bursa, Gaziantep, Istanbul, Izmir, Mersin, Samsun, Zonguldak). Das Durchschnittsalter lag bei 22 Jahren. Die gastfreundschaftliche Jugendherberge Afacan befand sich in der Provinz Sakran und diente uns als Camp. Während des Austauschs organisierten wir als Gruppe insgesamt zehn Workshops und zwei Ausflüge. Zudem gab es einen Gastvortrag über eine Klimabewegung bzw. die Antikohlekraftwerksproteste vor Ort.
Aufgrund eines herzlosen und kritischen Empfangs durch einen Zivilpolizisten am Adnan Menderes Flughafen in Izmir, gelangten wir zweieinhalb Stunden verspätet nach Afacan. Während wir noch am Flughafen feststeckten, malten die bereits angekommenen Teilnehmer*innen aus der Türkei zwei Banner mit den Slogan: „STAY LEFT – GO GREEN“(dt. „bleib links – werde grün“) und „Ağacı Sev, Ayıyı Öp, Bize Katıl“ (dt. „lieb die Natur, küss den Bär, mach mit uns mit“). Diese Banner wurden in dem Raum aufgehängt, in dem die meisten Workshops stattfanden.
Der richtige Austausch startete am Mittwoch, den 16.08.2017 mit einer Kennenlernrunde und einem Kennenlernspiel. Anschließend konnten sich alle für eines von siebenThemen eintragen, zu denen sie gerne eine Kampagne starten würden. Die Kampagnen sollten in Gruppen geplant und realisierbar ausgearbeitet werden. Am Ende der Woche standen dann die Präsentationen an. Diese Kampagnenplanungen bildeten den Rahmen des Austauschs und boten Raum für regen Austausch in kleinen Gruppen. Die sieben Themen für die Kampagnen wurden vorher mit den beiden Organisationsteams aus Deutschland und der Türkei abgemacht und lauteten Frieden, Sexuelle Belästigung/Ausbeutung, Jugendarbeitslosigkeit, Homo- und Transfeindlichkeit, Klimawandel, Geflüchtetenpolitik sowie Ungerechtigkeit in der Türkei (v.a. Einstellung der Gewaltenteilung mit Begründung des Ausnahmezustandes seit dem Putschversuch im Juli 2016). Nach der Einteilung der Kampagnengruppen, stellte ein lokaler Klimaaktivist den jahrelangen Anti-Kohle-Protest der Gegend vor und berichtete uns von dem Kampf der Aktivist*innen gegen das Kohlekraftwerk in Aliaga. Leider konnten wir nicht hinfahren und uns ein eigenes Bild vor Ort machen.
Am Abend hielt Esin (Teilnehmerin aus der Türkei) einen Workshop zum Thema Traumfänger, wobei es darum ging, die Wichtigkeit von Utopien zu betonen und unsere Träume zu schützen. Also bastelten wir unsere eigenen Traumfänger mit der Frage: Was ist meine Utopie? Auf dieses Ausgangsfrage gab es entsprechend viel
Gesprächsstoff, welches dazu führte, dass rege Unterhaltungen, erste Freundschaften ihren Grundstein legten und viel Kaffeesatz gelesen wurde.
Am Donnerstag, den 17.08.2017 begannen Vera, Ivan und Moritz (Teilnehmer*innen aus Deutschland) mit ihrem Workshop zum Thema: Veganismus/Vegetarismus – Was tun gegen die Agrarindustrie? Nach ihrem Vortrag setzten wir uns für 20 Minuten in kleine Gruppen zusammen, um Lösungen für die Fragen bzw. Problemstellungen zu finden. Beim anschließenden Zusammentragen der Lösungsansätze, fielen im Allgemeinen folgende Ideen: Samenhandel, Urban Farming, ökologische Dörfer, Einstellung der Massentierhaltung, Verteilung aus dem Verkauf genommener Lebensmittel, deren Haltbarkeitsdatum abgelaufen war, Nutzung erneuerbarer Energie, statt fossiler Energie und Degrowth.
Es folgte ein sehr interaktiver Workshop zu Feminismus, organisiert und gehalten von Alp (Teilnehmer aus der Türkei). 10 Minuten lang sollten wir über Aussagen diskutieren, die den aktuellen Diskurs ausmachen und in der Regel kritische Gespräche entfachen. Durch die Einordnung im Raum konnte man dann die Zustimmung zu den jeweiligen Aussagen beobachten. Die im Workshop gestellten 5 Aussagen und ihre Hauptdiskussionspunkte waren:
1. „Wir hätten Hillary Clinton unterstützen sollen, weil sie ein Frau ist.“ – Frauen* sollten nicht nur aufgrund ihres Genders unterstützt werden, ihre Beteiligung in der Politik jedoch schon.
2. „Dass alle Menschen, die sich als Frau* bekennen an Frauen*demos und – veranstaltungen teilnehmen, ist falsch.“ – Alle Menschen, die sich als Frau* bekennen, sollten in Bezug auf Demos und Veranstaltungen inkludiert werden.
3. „Unisex Toiletten sollten nicht benutzt werden, da sie die Belästigung an Frauen* und ihre Benachteiligung fördern würden.“ – Der Gebrauch ist natürlich und es werden keinerlei Verluste oder Benachteiligungen an einzelnen Toiletten gesehen. 4. „Da «Ehe» ein historischer Begriff für heterosexuelles Zusammensein zweier Menschen ist, sollte das homosexuelle Zusammensein zweier Menschen anders genannt werden.“ – Nicht nur für Homosexuelle, sondern auch für Heterosexuelle ist der Begriff der «Ehe» veraltet und nicht mehr angemessen.
5. „Wenn bei einem heterosexuellen Liebespaar zusammen ein Kind gezeugt wurde, sollte die Entscheidung zur Abtreibung ebenfalls zusammen gefällt werden.“ – Dass man sich zusammen dafür entscheidet, wird als ideales Szenario gesehen, jedoch sollte die Frau/schwangere Person die letzte Entscheidungskraft haben. Später hielt Deniz Ö. einen Workshop zu Sexualität, sexueller Gesundheit und Fortpflanzungsgesundheit. Sie erzählte Allgemeines über sexuell übertragbare Krankheiten, ihre möglichen Symptome und Vorbeugungen, sowie über Verhütungsformen. Daran anknüpfend zeigte sie uns Tipps und Übungen für einen besseren (vaginalen) Orgasmus nach dem Buch „I Love Female Orgasm“ von Marshall Miller und Dorian Solot. Ziel des Workshops war es, das Thema der
Sexualität unter den Jugendlichen gesprächsfähiger zu machen, während es in der Gesellschaft, Kultur und Politik als Tabu gesehen wird.
Am Freitag, den 18.08.2017 gab es am Morgen in Begleitung mit der Reiseführung, einen Ausflug nach Pergamon. Wir besichtigten die alten Stadtmauern und den Ort, an dem früher der Pergamonaltar gestanden hat. Unser Dolmetscher Nihat, ein Reiseführer mit viel Expertise, erzählte uns von den Wassertanks und den Aquädukt, der Geschichte des Altars und von den Diebstählen der Metallverankerungen mancher Steine. Wir waren sehr beeindruckt von der raffinierten Architektur und dem grandiosen Ausblick vom Hügel.
Am Nachmittag hielten zunächst Emma, Martin und Michel (Teilnehmer*innen aus Deutschland) einen Vortrag über die Entwicklung ökologischer Bewegungen in Deutschland. Dabei gingen sie nicht nur auf die Entwicklung von Bündnis90/Die Grünen und ihr Wahlprogramm ein, sondern berichteten über die Umweltprobleme, als auch über die Strategien und Methoden, mit denen man sie bekämpfen kann. Als Beispiel dafür, dass Umweltbewegungen wirklich etwas bewegen können, haben sie den Atomausstieg in Deutschland genannt, den wir den Umweltaktivist*innen zu verdanken haben und in den die Grüne Jugend viel Arbeit und Kraft gesteckt hat. Darauf folgte ein Vortrag von Ozan (Teilnehmer aus der Türkei) über die letzten ökologischen Bewegungen und Kämpfe in der Türkei. Dabei berichtete er unter anderem von dem Gezi Park und den Cerratepe Widerstand. Diese zeigten, dass einfache, kleine, lokale Organisationen, aber auch größere, von Parteien und international unterstütze Bewegungen und Organisationen, sich stark für den Naturschutz einsetzen. Nach beiden Vorträgen zeigte sich ein deutlicherer Unterschied im Verständnis zu Umweltbewegungen. Während die Aktivist*innen in Deutschland sich hauptsächlich für bundesweiten Umweltschutz einsetzen, setzen sich die Aktivist*innen in der Türkei eher für den lokalen Naturschutz ein.
Zum Abend analysierten wir oberflächlich mit Pinar zusammen einige türkische, armenische, kurdische, griechische und arabische Lieder. Ein Lied lernten wir dann auf 3 verschiedenen Sprachen zu singen. Anschließend brachte Ömer uns einen traditionellen Tanz bei, der aus der Schwarzmeerregion der Türkei kommt. Also tanzten alle gemeinsam Halay und Horon.
Am Samstag, den 19.08.2017 fuhr eine Gruppe der Teilnehmer*innen früh ins Zentrum Izmirs. Zu der Gruppe gehörten alle Teilnehmer*innen aus Deutschland und wenige aus der Türkei. Nach einem Frühstück in dem Bazar teilte sich die Gruppe an der historischen Turmuhr auf. Die Teilnehmenden aus der Türkei und ein Teil der deutschen Teilnehmenden besuchten die an dem Tag organisierte Gerechtigkeitswache der Yesil Sol Partei Izmir, bei der Ramih sogar eine Rede hielt. Währenddessen hatten die Teilnehmenden aus Deutschland die Möglichkeit das Zentrum weiter selbstständig zu erkunden und Souvenirs einzukaufen.
Zurück im Camp hielt Cihan (Teilnehmer aus der Türkei) einen Workshop zur Gerontokratie und Partizipation der Jugendlichen an Politik in Deutschland und der Türkei, bei dem im Allgemeinen gesagt wurde, dass für beide Jugendgruppen die älteren Parteimitglieder eine Art Geldquelle darstellen. Außerdem sind ihre Erfahrungen und Berichte oft hilfreich, aber ihr Gedanke „Geht meinen Weg, so wird das am besten.“ auch nervig und bedrückend. Des Weiteren erkennen sie meistens schlechte Ideen der Jugendlichen schneller und können sie an radikalen Handlungen hindern, sind jedoch auch weniger offen und kreativ. Zudem stellten wir abschließend gemeinsam fest, dass natürlich weder alte, noch junge Menschen eine homogene Gruppe sind und wir mit vielen Vorurteilen gearbeitet hatten.
Später gab es einen Workshop zu Körpermusik von Ömer. Außerdem setzten sich die Kampagnengruppen zusammen, um noch die letzten Planungen für ihre Präsentationen zu machen.
Am Sonntag, den 20.08.2017 präsentierten die einzelnen Kampagnengruppen ihre Ergebnisse. Es war faszinierend, wie viele unterschiedliche, kreative Ideen in nur einer Woche zusammengetragen worden waren. Um diese umzusetzen, werden alle Gruppen den Kontakt aufrechterhalten, auch wenn ihre Gruppenmitglieder an verschiedenen Orten leben.
Die Kampagnen sollen weiter ausgearbeitet werden und anpassend an das jeweilige Land, realisiert werden. Das heißt, dass die Gruppe „Geflüchtetenpolitik“ mit ihrer Idee eines Musikstückes, das einen Ohrwurm bereiten soll, sich an den jeweiligen Orten an den verschiedenen Musikhintergründen orientieren muss. Oder aber auch, dass die Gruppe „Ungerechtigkeit in der Türkei“ eventuell sogar verschiedene Ziele mit der gleichen Kampagne in den 2 Ländern verfolgt.
Diese Gruppen bestehen noch und wir hoffen, dass die Kampagnen schnellstmöglich und gut realisiert werden können. Nach den Vorstellungen der Kampagnen begann unser letzter Workshop zu internationaler Vernetzung grün-linker Bewegungen, organisiert von Cihan und Alp. Dabei haben sich mehrere Gruppen gebildet, die jeweils die Arbeit einer Partei oder Bewegung untersuchten und in verschiedenen Formen zusammenfassten. Diese wurden dann hinterher allen vorgestellt. Einige der Teilnehmenden reisten bereits am Sonntag ab und andere verbrachten den verbliebenen Abend noch entspannt zusammen und tauschten sich über diverse Themen aus.
Im Allgemeinen hatten wir zwischen den Workshops und Vorträgen relativ viel Freizeit, um im Meer oder Pool zu schwimmen, Spiele zu spielen, uns kennenzulernen und auszutauschen, oder zu entspannen. Das freute uns und es hat der Arbeit sehr geholfen, den spaßigen Part nicht zu vergessen und einen Ausgleich zu finden. Ein Austausch lebt schließlich nicht nur von inhaltlichen Debatten, sondern auch von den zwischenmenschlichen Beziehungen, die in dieser Zeit gebildet werden.
Unser herzloser Empfang am Flughafen, die Erfahrungen, die uns seitens der Jugendlichen aus der Türkei mitgeteilt wurden sowie die Erkenntnisse, die in den einzelnen Workshops erarbeitet wurden, gaben uns eine neue, eigene und teils schockierende Perspektive auf die politische Situation in der Türkei, über die wir sonst nur in den Medien etwas zu hören bekommen. Wir sahen viel Mut, Hoffnung, Energie und Potenzial bei den Teilnehmer*innen aus der Türkei. Das hat uns angesteckt und wir sind mit großer Motivation und Kraft zurück nach Berlin gereist. Das Motto des Camps „Kein Platz für Hoffnungslosigkeit“ war kraftvoll und beeindruckend ehrlich. Deshalb fühlten wir uns alle bestätigt, dass es wichtig war, an dieser Begegnung teilzunehmen, auch wenn zum Teil unsere Familien und unser Umfeld uns davon abrieten. Wir haben eine Menge voneinander gelernt. Für viele Teilnehmenden aus der Türkei war dieses Camp die erste Möglichkeit aus ihrem Wohnort zu reisen und Menschen aus einer anderen Stadt und einem anderem Land zu treffen und sich mit ihnen zu vernetzen. Das Gefühl nicht alleine zu sein wurde gestärkt. Auch die Teilnehmenden aus Deutschland haben sich auf dieser Reise näher kennengelernt und für einige der deutschen Teilnehmer*innen war es ebenso ein neuer Austausch und eine große Aufregung, in ein weiter entferntes Land, als z.B. die Schweiz zu fahren und sich direkt mit den Menschen von dort auszutauschen.
Wir sind näher zusammen gewachsen.
Nun möchten wir uns sehr gerne bei den vielen Menschen bedanken, die diese Begegnungsreise ermöglicht haben, oder sie noch besser gestaltet und geschmückt haben.
Ein riesiger Dank geht an Ali Özkan für die Stiftung UmVerteilen, sowie die Genctur Agentur, die unsere Reise gefördert haben.
Danke an Nihat, der für uns übersetzt hat.
Danke an den freundlichen Shuttlebusfahrer, der geduldig auf uns wartete.
Danke an Fidel Kilic, der mit seinen Aufnahmen ein tolles Video zusammengestellt hat.
Danke an die Jugendherberge Afacan, vor allem an Filiz, Alican und die freundlichen Arbeiter*innen.
Danke an den Initiator dieser Begegnungsreise Rauf Uluc im Namen der Grünen Jugend Berlin und der Yesil Sol Gencler.
Danke an das Organisationsteam aus Istanbul: Cihan, Ozan, Burcu, Alp und Deniz. Danke an das Organisationsteam aus Berlin: Emma, Vera, Tülin, Caspar und Hivanu. Danke an alle Teilnehmer*innen, die trotz – und gerade wegen – der politischen Situation der Türkei und der Schwierigkeit dort politisch aktiv zu sein, da waren.